Kategorien
Rezensionen

[Rezension] Vernichten – Michel Houellebecq

Dieses Buch ist eine Wucht! Politischer Albtraum und privates Familiendrama schaukeln sich hoch, bis kein Halt mehr bleibt.

Wow! Was für ein Buch! Ich bin immens beeindruckt: sprach- und wortgewaltig, authentisch und so so anders, was ich bisher gelesen habe.

© DUMONT BUCHVERLAG

Die Geschichte bahnt sich an wie ein Sommersturm: erst ist eine leichte Brise ab und an spürbar, aber noch ungefährlich; später steigert sie sich dann in peitschende Windböen, die einen von den Füßen fegen können und artet anschließend in einen angsteinflößenden Sturm aus, wo nach einem Knall plötzlich irritierende Stille einsetzt. Man schaut sich um und versteht nicht, ob man sich die Naturgewalt gerade nur eingebildet hat. Aber nein, die Empfindungen sind noch da, die Angst, die Anspannung klingen ab, bleiben aber noch deutlich spürbar. Und man kann es nicht fassen, dass man diese Wucht gerade überlebt hat.

Genau so habe ich mich beim Lesen gefühlt. Bis ca. Seite 200 konnte ich nicht genau sagen, worum es eigentlich in diesem Buch geht. Aber: der Schreibstil war so einnehmend und die Personen so authentisch, dass ich einfach nur weiterlesen musste. Was wird das? – habe ich mich oft gefragt und gebannt weitergelesen.

Zumindest den Anfang kann man kurz beschreiben. Die Geschichte beginnt mit dem Auftauchen eines Videos, in dem Frankreichs amtierender Wirtschaftsminister geköpft wird. Das Video ist fake, denn der Wirtschaftsminister Bruno lebt noch, aber es stellt sich die Frage, was die Urheber mit diesem Video bezwecken. Parallel zur Politik, die im Laufe der Geschichte immer mehr in den Hintergrund tritt, passiert so einiges in Pauls Familie. Sein Vater wird nach einem Herzschlag zum Pflegefall. Schnell muss die Familie handeln, doch so einfach ist es nicht. Viele Fragen müssen geklärt, Entscheidungen getroffen und Konflikte gelöst werden.

Was dann weiter passiert konnte ich überhaupt nicht vorhersehen. Kritiker würden anbringen, dass das ja auch klar ist, dass man nichts vorausahnen kann, denn der Roman hätte eigentlich auch keine Handlung. Eine erkennbare Handlung im Sinne von einem zentralen Konflikt und seiner Auflösung fehlt, da stimme ich zu. Aber erstaunlicherweise braucht dieser Roman das überhaupt nicht. Die Handlung ist wie das Leben selbst: viele kleine auf den ersten Blick unwichtige Ereignisse verweben sich zu einem Ganzen. Paul führt eigentlich ein ziemlich lineares Leben, ohne Höhen und Tiefen, doch eins führt zum anderen und er wird im Laufe zum tragischen Helden der Geschichte. Man ahnt überhaupt nicht, was alles passieren kann. Und wird von einem Moment auf den anderen wie vor den Kopf gestoßen. Gerade diese scheinbare Linearität gaukelt Ruhe und Beständigkeit vor, um danach so zu überraschen, dass man alles, was ein Menschenleben ausmacht – Familie, Beziehungen, Beruf und Arbeit – einfach alles scheinbar „Langweilige“ in Frage gestellt wird.

Houellebecq schreibt wirklich meisterhaft, ich konnte mich seiner Worte nicht entziehen und musste viele Passagen mehrmals lesen. Nicht selten begegnet man Ausführungen zu Philosophie, Religion, Geschichte, Politik. Er legt nicht die Hand vor den Mund, er streut Salz in die Wunde und legt der Gesellschaft den Spiegel vor. Fragen zur Euthanasie, zur Pflege von Angehörigen, der Tod und das Leben, was bleibt am Ende eines Menschenlebens?

Ein Leben ist niemals schön, wenn man sein Ende betrachtet, wie Pascal es mit der für ihn typischen Brutalität formuliert hatte. „Der letzte Akt ist immer blutig, so schön unter anderem die Komödie gewesen sein mag. Zum Schluss schüttet man ein bisschen Erde auf uns, und alles ist für immer beendet.“

Meine Ausgabe habe ich in der Bibliothek entliehen. Auf dem Buchrücken steht auf Houellebecqs Roman „Gesellschaft“ als zentrales Thema und ich finde, dass es gut getroffen wurde. Denn obwohl hauptsächlich Paul im Zentrum der Handlung steht, geht es doch auch hauptsächlich um die europäischen Werte, das politische Theater, das Gesundheitswesen – Houellebecq pikst und gibt sich nicht mit schwarz-weiß-Denken zufrieden. Und genau aus diesem Grund war es so erfrischend anders, dieses Buch zu lesen. Ich kann es nur wärmstens empfehlen und nehme mir vor, einfach alles von Houellebecq lesen.

Eine Antwort auf „[Rezension] Vernichten – Michel Houellebecq“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert